August 28, 2017Keine Kommentare

Ein Gedicht zwischendurch könnte vieles ändern

Wohltemperiert. Das wäre wohl die korrekte Bezeichnung des Lebensgefühls unserer Gesellschaft. Die größte denkbare Katastrophe, die den Einzelnen ereilen kann, ist eine Einkommenssteuernachzahlung. Alle anderen Bedrohungen halten wir uns fern. Wenn wir wählen, dann wählen wir das geringste Risiko - nur nichts, was uns weh tun könnte. Muttigefühl.

Vermutlich hat eben dieses Empfinden einem jungen, klugen, hochbegabten Autor die Idee zu der Novelle "Sieben Nächte" aufgedrängt. Selbst Ende Zwanzig, an der Schwelle stehend, die ihm noch ermöglicht, die Tür offen zu lassen, mag kommen was will - oder - den Fernzug mit den nummerierten Plätzen zu nehmen. Einmal eingestiegen, kann man sich zwar noch immer entscheiden, die Abteiltüren zuzuschieben und sich beim Schaffner zu beschweren, wenn das Nachbarabteil zu laut oder der Kaffee mal wieder ungenießbar ist. Vielleicht wählt man ja den Großraumwagen, um mit anderen eine Party zu feiern. Da fällt es auch nicht ins Gewicht, wenn es zu längerem Halt auf freier Strecke wegen Personenschadens im Gleisbereich kommt. Man fährt zum vorbestimmten Ziel. Aber während der Fahrt sind die Türen geschlossen zu halten.

In dem Buch stehen kluge, gut gebaute Sätze, die eine Generation beschreiben, die an ihrem eigenen Mangel, den Aufstand zu wagen, verzweifelt. Der wohlfeile Zynismus, mit der man sich gegen Alternativen abschottet, kotzt sie selbst an. Wie Simon Strauss das beschreibt und wie er hinter der glatten Oberfläche die Sehnsucht nach einem anderen, dem wirklichen Leben, sichtbar macht, ist deswegen ergreifend, weil man spürt, dass das nicht nur Attitüde ist. Angekommen in den Schluchten des Alltags wird etwas gesucht, von dem man nicht weiß, was es ist.

Zwei Anmerkungen:

Die Konstruktion, Sieben Todsünden zu durchleben, eignet sich nur bedingt für eine Wirklichkeit, deren Versuchungen viel banaler und wenig greifbar sind. Der Heilige Antonius hätte vermutlich- in der Überschätzung seiner Demut- geglaubt, spielend damit fertig zu werden, nicht ahnend, wie spinnwebartig zäh eine konsumdurchwebte Welt sein kann.

Die Strenge der Form lässt nicht genug Raum für wirkliche Tragik. Aber vielleicht ist das ja erwünscht?

Und dann ist da noch die Frage nach dem Generation- Typus. Könnte es nicht sein, dass Die jenseits der Dreißig, Vierzig, Fünfzig, Sechzig genauso empfinden? Ist die vorprogrammierte Behäbigkeit und auch die Abscheu dagegen nicht altersunabhängig ? Wenn wir die Notbremse ziehen, macht es keinen Sinn im Zug sitzen zu bleiben, egal wie groß die individuelle Zukunft noch ist, vor der man steht.

Ein Gedicht zwischendurch wäre immerhin ein Anfang.

August 2, 2017Keine Kommentare

Wiederbegegnung mit einem alten Freund

Die Romane, die man in seiner häuslichen Bibliothek stehen hat, sind eine Art intellektueller Tapete. Dabei kann man sie im Wesentlichen in zwei Kategorien einteilen: Zum einen sind da die Bücher, die man mit Begeisterung gelesen hat, die die Leseerfahrung geprägt haben. Man bildet sich ein, man würde sie entweder selbst später noch einmal lesen, sie der Familie, den Freunden, den Kindern empfehlen, was manchmal sogar gelingt, aber ihr eigentlicher Zweck ist es, sie von Zeit zu Zeit aus dem Regal zu ziehen, darin zu blättern und sich von Neuem in die Geschichte oder auch nur in einzelne Sätze zu verlieben. Die zweite Sorte ist die gefährlichere - die Bücher, die man irgendwann, „wenn man genügend Zeit hat“ endlich einmal lesen will. Ihr Vorhandensein ist ein permanenter Vorwurf.

Ein Buch der ersten Kategorie werde ich nun wohl ersetzen müssen – durch ein neues Exemplar.

Seit ich dieses Buch in meiner Jugend gelesen habe, betrachte ich das Wirken der Ameisen, selbst der harmlosen und wohl eher nützlichen einheimischen Waldameisen, mit sehr kritischem Blick.

Dieses Symbol der Beharrlichkeit und Widerstandskraft gegen den Menschen ist es, was mir von dem Buch in Erinnerung geblieben ist. Die Kulmination des Geschehens in der allmählichen Wiedereroberung der von verirrten Menschen geschaffenen Zivilisation durch die sich wehrende Natur, macht das Buch ungeheuer gegenwärtig und verleiht ihm eine nicht zu unterschätzende Aktualität.

Im letzten Jahr erschien eine Neuübersetzung dieses wichtigsten Werkes von Garcia Marquez. Dagmar Ploetz hat die Bildhaftigkeit seiner Sprache neu ins Deutsche übertragen und dabei ihre Sinnlichkeit betont, die das Leseerlebnis noch intensiver macht. Wir folgen dem Aufstieg und Fall einer Familie des Urwaldstädtchens Macondo in ihrer Vielschichtigkeit. So wechselt der Autor im Verlauf der Geschichte so oft den Ton, wie man es in der bisherigen Fassung nicht wahrnehmen konnte. Die oft verstörende Handlung erfährt eine poetische Überhöhung, die Bilder wie „den Seufzern über Enttäuschungen, die älter als die zähesten Sehnsüchte waren.“ , „die Unerschrockenheit der Spinnweben“, „die Geduld der Luft in der strahlenden Februarfrühe“ möglich macht.
Für Hörbuch Hamburg hat Ulrich Noethen diesen Text eingelesen. Er tut dies unaufgeregt und lässt die notwendigen Freiräume der Interpretation, die die vielfältigen Tonwechsel verlangen.

Hundert Jahre Einsamkeit ist ein gutes Beispiel dafür, dass Meisterwerke kaum altern, unser Blick auf sie sich aber sehr verändern kann.

 

Buch: Gabriel Garcia Marquez, Hundert Jahre Einsamkeit

Bild: © Hörbuch Hamburg

Juli 23, 2017Keine Kommentare

Wo die Grenze zwischen den Welten dünn wird

Buchkritik: Donna Tartt, Der Distelfink

Auf einem magischen Würfel, den ich im Museumsshop des Mauritshuis in Den Haag erworben habe, erscheint, wenn man ihn richtig zusammensetzt, neben anderen Gemälden das Bild eines Distelfinken, der auf einer schlichten Holzbox sitzt. Gemalt wurde das Bild von dem frühvollendeten Delfter Maler Carel Fabritius. Es zählt in seiner Einzigartigkeit zu den Meisterwerken des Goldenen Jahrhunderts niederländischer Malerei.

Jetzt bin ich diesem Bild wiederbegegnet- in einem Roman von Donna Tartt. Ein Buch, das ich mir am Krankenbett von Matthias Koeberlin habe vorlesen lassen.

Manchmal gelingt es Büchern, uns nicht nur mit einer guten Geschichte zu unterhalten, sondern Nachrichten gleich Pfeilen in unser Inneres zu schicken. Die Verletzungen, die sie dort anrichten, verursachen Schmerz und Freude zugleich. Schmerz darüber, dass es gelungen ist, die mühsam aufgebaute Schutzhülle, die uns im Alltag begleitet, zu verletzen und uns so verwundbar zu machen. So ähnlich muss sich der Pfeil, der Achilles´ Ferse durchdrungen hat, angefühlt haben.

Die Freude rührt daher, wieder einmal zu spüren, dass wir nicht so einsam durch die Welt gehen, wie es auf den ersten Blick scheint. Da gibt es andere Menschen, die ähnlich empfinden wie man selbst, die ähnlich denken. Man lässt sich berühren und weiß wieder, warum es ein urmenschliches Bedürfnis ist, Geschichten zu erzählen.

Das Raffinierte an wirklich guten Büchern ist die Art der Übermittlung der Botschaften.
„Der Distelfink“ ist eines dieser wunderbaren Bücher.

Die Folie - New York. Ein Junge geht mit seiner Mutter ins Metropolitan Museum, um just jenes aus den Niederlanden ausgeliehene Bild zu sehen. Der Junge sieht nicht das Bild, sondern ein Mädchen seines Alters, das mit ihrem Großvater die Galerie besucht - Pippa. Da erschüttert eine Explosion das Museum. Theodore, so heißt unser Held, erwacht in den Trümmern, neben sich den sterbenden Großvater des Mädchens, der ihm das kleine Bild des Distelfinken in die Hand drückt. So wird er der unrechtmäßige Besitzer dieses Bildes.

Das weitere Geschehen wird immer wieder von dem Gemälde, das von den verschiedensten Seiten begehrt wird, vorangetrieben. Der Distelfink bewährt sich dabei als das, wofür er in der Kunstgeschichte immer stand - als Symbol für die geretteten Seelen, aber auch für Ausdauer und Beharrlichkeit.

Die braucht Theodor, um mit seinem Leben zurecht zu kommen. Wir folgen ihm über mehr als ein Dutzend Jahre. Gerettet wird er immer wieder von seinen Freunden. Die zwei, denen er alles verdankt, sind zum Einen der alte Kunstrestaurator Hobie, der Geschäftspartner des Mannes, von dem er das Bild hat. Er nimmt den verlassenen Jungen auf und bietet ihm ein Zuhause, als er es braucht, auch um zu lernen, wie man mit Trauer lebt. Selbst als Theodore längst erwachsen ist, hat er seinen Platz bei Hobie, der seine Familie geworden ist. Bei allen Verirrungen, von denen es nicht wenige gibt, ist Hobie, seine Liebe, seine Redlichkeit und die Wohnung der Ort, der vor der Welt schützt.

Und dann ist da Boris, das verwahrloste Kind eines brutalen Ukrainers, eine der verwegensten Figuren, die mir in letzter Zeit in der Literatur untergekommen sind. Was wäre aus den unvollkommenen Helden Theodore und Boris geworden, wenn die beiden Halbwaisen sich nicht begegnet wären? Sie wären verloren gewesen, soviel steht fest. Jeder auf seine Weise. Auch in dieser Freundschaft spielt das Gemälde eine wichtige Rolle. Es trägt dazu bei, dass sie Augen und Herz offen halten und nicht verloren gehen in den Turbulenzen des Schicksals.
Ja und schließlich Pippa, jenes am Anfang kleine Mädchen, dem wir ursprünglich in der Galerie begegnet sind. Sie bleibt das Symbol einer Sehnsucht, die nach Erfüllung strebt, auch wenn unklar ist, ob es diese Erfüllung geben kann, solange wir eingesperrt sind im Herzen des Lichts wie der Distelfink.

Wir haben es mit einem Buch zu tun, das vieldeutige Antworten auf die Geheimnisse des Lebens gibt und mich sicher noch lange begleitet.
Einen so dicken Roman adäquat vorgelesen zu bekommen, ist natürlich der pure Luxus. Dafür danke ich Matthias Koeberlin - gut gemacht!


© Bild: Random House
 

Juli 19, 2017Keine Kommentare

Matthias Brandt, Raumpatrouille

Matthias Brandt entführt uns in „Raumpatrouille“ in einen Kosmos. Es ist der längst r

rloren geglaubte Kosmos der Kindheit.
Dabei spielt es kaum eine Rolle, dass es um eine fremde Kindheit geht, die noch dazu von Personen der Zeitgeschichte bevölkert wird. Entzaubert werden die Berühmtheiten ohnehin. Sie tun so seltsam unspektakuläre Dinge wie Fahrrad fahren, Zigarren rauchen oder Kakao trinken. Dass der unbequeme Arbeitskollege des Vaters Wehner heißt, oder der demente Opa von nebenan Lübke, tut nichts zur Sache. Im Erleben des Jungen sind die Dinge, wie sie sind.

Der Leser nimmt verwundert zur Kenntnis, dass in diesen Geschichten auf alltägliche Weise der einzigartige Blick eines Kindes auf die Welt widergespiegelt wird, ohne kindisch zu sein. Vermutlich ist es die unprätentiöse, kein bisschen anbiedernde Erzählweise und die ernsthafte Nachsicht, mit der der Autor eine Verbindung zum Leser herstellt, die es diesem ermöglicht, einen Blick zurück in die eigene Kindheit zu werfen. Empfindungen und konkrete Erlebnisse blitzen wieder auf, die tief in der Erinnerung vergraben zu sein schienen.

Die Geschichten sind klein, manchmal fragmentarisch, aber sie erscheinen dadurch noch authentischer, weil Erinnerung eben so funktioniert. Manche Dinge bleiben im Nebel.

Man möchte glauben, dass zwischen der Welt eines Jungen, der noch dazu der Sohn des Bundeskanzlers war und dem Aufwachsen in einer normalen Familie in der ostdeutschen Provinz wenige Jahre früher, riesige Unterschiede auszumachen wären. Zu meiner Verblüffung ist dem überhaupt nicht so. Die Unterschiede sind marginal, während die Ähnlichkeiten riesig und teilweise völlig unvermutet sind.
Man hat das Buch schnell ausgelesen, aber es wirkt lange nach. Der Schutzumschlag mit dem stilisierten Haus, dem Garten, dem Wald und der Rakete und dazu passend dann noch ein orangener in Rauten geprägter Einband der Ausgabe der Büchergilde ist die adäquate Verpackung für diese Erzählungen, obwohl der Junge mit Hund am Fluß ist auch sehr stimmig. Bin mir nicht sicher, welchen Umschlag ich schöner finde.

Man darf auf weitere Texte dieses begabten Autors gespannt sein. Aber leider hat er ja noch einen anderen Job, den er auch nicht so schlecht macht.

 


© Bild: Kiepenheuer&Witsch, Montage: BR