Oktober 31, 2017Keine Kommentare

Marcel Proust – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

In Swanns Welt – gelesen von Peter Matic

„Wozu noch den Schatten dieser Bäume aufsuchen, wenn nichts mehr ist von dem, was früher sich traf unter dem zart sich rötenden Laub, wenn Gewöhnlichkeit und Wahn die Stelle jenes erlesenen Lebens eingenommen haben, das sie einstmals umrahmten.“

Marcel Proust „In Swanns Welt“

Dieses Buch sollte man vermeiden zu lesen, wenn man entweder einen Mangel an Zeit und/ oder einen an Geduld hat. Das Gesamtwerk umfasst in der jüngsten Ausgabe des Suhrkamp Verlages 5200 Seiten- 7 Bücher in 3 Bänden. Keine spannenden, der Aufklärung harrenden Verwicklungen oder gar Verbrechen. Dafür erwartet den Leser ein großer Schatz an Erkenntnis über die Geheimnisse des Lebens, des Liebens und ein Vergnügen des Denkens an sich. Vor allem aber ist da die Schönheit der Sprache, die Jeden, der hin und wieder versucht, selbst Sätze zu bilden, vor Bewunderung erschauern lässt.

Ein alter Mann erinnert sich an das mondäne Leben im Ausgang des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts. Es sind die Lieben, denen er wiederbegegnet- sowohl der eigenen, wie auch der Anderer. Im ersten Band ist es die des jungen intellektuellen Lebemanns Swann. Er ist einer Frau verfallen, die scheinbar nur mit ihm und seinen Gefühlen spielt. Sie entfernt sich. Er versucht sich auch zu lösen, und doch sehen wir sie später als Paar. Das Mysterium der Liebe.

In meiner Bibliothek hat dieser Roman bisher das Schicksal von Musils „Mann ohne Eigenschaften“ oder Joyce „Ulysses“ geteilt. Später, wenn ich Zeit habe. Wann auch immer das sein wird.

Darum kann man nur dankbar sein für die Lesung von Peter Matic, die nicht bloß eine Lesung ist. Es ist wohl eher, so wie das auch mit Gert Westphals Lesungen der Werke Thomas Manns ist, eine eigene Interpretation. Matic breitet die Gedanken und Sprachwelt Prousts vor einem aus, legt Fährten und erleichtert so den Zugang.

Auf Reisen Proust zu hören, lässt einen sogar manche Verspätung vergessen. Man ist in einer eigenen Welt. Im Unterschied zu unserem heutigen Leben hat man sich in dieser Welt Zeit gelassen für die Wahrnehmung und die Tiefe von Empfindungen. Wenn Proust das Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ nennt, was sollten wir rückblickend sagen zu unserem streng getakteten und für Muße keinen Raum lassenden Leben? Vielleicht ist ja die im Stau, in der Schlange beim ‚Check In‘, im ICE zugebrachte Zeit der moderne Raum für die Reflexion? Auf jeden Fall hat man genügend Gelegenheiten, Proust zu hören.

Und nun, nach dem ersten Band? Jetzt bin ich gespannt, wie es weitergeht.

August 2, 2017Keine Kommentare

Wiederbegegnung mit einem alten Freund

Die Romane, die man in seiner häuslichen Bibliothek stehen hat, sind eine Art intellektueller Tapete. Dabei kann man sie im Wesentlichen in zwei Kategorien einteilen: Zum einen sind da die Bücher, die man mit Begeisterung gelesen hat, die die Leseerfahrung geprägt haben. Man bildet sich ein, man würde sie entweder selbst später noch einmal lesen, sie der Familie, den Freunden, den Kindern empfehlen, was manchmal sogar gelingt, aber ihr eigentlicher Zweck ist es, sie von Zeit zu Zeit aus dem Regal zu ziehen, darin zu blättern und sich von Neuem in die Geschichte oder auch nur in einzelne Sätze zu verlieben. Die zweite Sorte ist die gefährlichere - die Bücher, die man irgendwann, „wenn man genügend Zeit hat“ endlich einmal lesen will. Ihr Vorhandensein ist ein permanenter Vorwurf.

Ein Buch der ersten Kategorie werde ich nun wohl ersetzen müssen – durch ein neues Exemplar.

Seit ich dieses Buch in meiner Jugend gelesen habe, betrachte ich das Wirken der Ameisen, selbst der harmlosen und wohl eher nützlichen einheimischen Waldameisen, mit sehr kritischem Blick.

Dieses Symbol der Beharrlichkeit und Widerstandskraft gegen den Menschen ist es, was mir von dem Buch in Erinnerung geblieben ist. Die Kulmination des Geschehens in der allmählichen Wiedereroberung der von verirrten Menschen geschaffenen Zivilisation durch die sich wehrende Natur, macht das Buch ungeheuer gegenwärtig und verleiht ihm eine nicht zu unterschätzende Aktualität.

Im letzten Jahr erschien eine Neuübersetzung dieses wichtigsten Werkes von Garcia Marquez. Dagmar Ploetz hat die Bildhaftigkeit seiner Sprache neu ins Deutsche übertragen und dabei ihre Sinnlichkeit betont, die das Leseerlebnis noch intensiver macht. Wir folgen dem Aufstieg und Fall einer Familie des Urwaldstädtchens Macondo in ihrer Vielschichtigkeit. So wechselt der Autor im Verlauf der Geschichte so oft den Ton, wie man es in der bisherigen Fassung nicht wahrnehmen konnte. Die oft verstörende Handlung erfährt eine poetische Überhöhung, die Bilder wie „den Seufzern über Enttäuschungen, die älter als die zähesten Sehnsüchte waren.“ , „die Unerschrockenheit der Spinnweben“, „die Geduld der Luft in der strahlenden Februarfrühe“ möglich macht.
Für Hörbuch Hamburg hat Ulrich Noethen diesen Text eingelesen. Er tut dies unaufgeregt und lässt die notwendigen Freiräume der Interpretation, die die vielfältigen Tonwechsel verlangen.

Hundert Jahre Einsamkeit ist ein gutes Beispiel dafür, dass Meisterwerke kaum altern, unser Blick auf sie sich aber sehr verändern kann.

 

Buch: Gabriel Garcia Marquez, Hundert Jahre Einsamkeit

Bild: © Hörbuch Hamburg

Juli 23, 2017Keine Kommentare

Wo die Grenze zwischen den Welten dünn wird

Buchkritik: Donna Tartt, Der Distelfink

Auf einem magischen Würfel, den ich im Museumsshop des Mauritshuis in Den Haag erworben habe, erscheint, wenn man ihn richtig zusammensetzt, neben anderen Gemälden das Bild eines Distelfinken, der auf einer schlichten Holzbox sitzt. Gemalt wurde das Bild von dem frühvollendeten Delfter Maler Carel Fabritius. Es zählt in seiner Einzigartigkeit zu den Meisterwerken des Goldenen Jahrhunderts niederländischer Malerei.

Jetzt bin ich diesem Bild wiederbegegnet- in einem Roman von Donna Tartt. Ein Buch, das ich mir am Krankenbett von Matthias Koeberlin habe vorlesen lassen.

Manchmal gelingt es Büchern, uns nicht nur mit einer guten Geschichte zu unterhalten, sondern Nachrichten gleich Pfeilen in unser Inneres zu schicken. Die Verletzungen, die sie dort anrichten, verursachen Schmerz und Freude zugleich. Schmerz darüber, dass es gelungen ist, die mühsam aufgebaute Schutzhülle, die uns im Alltag begleitet, zu verletzen und uns so verwundbar zu machen. So ähnlich muss sich der Pfeil, der Achilles´ Ferse durchdrungen hat, angefühlt haben.

Die Freude rührt daher, wieder einmal zu spüren, dass wir nicht so einsam durch die Welt gehen, wie es auf den ersten Blick scheint. Da gibt es andere Menschen, die ähnlich empfinden wie man selbst, die ähnlich denken. Man lässt sich berühren und weiß wieder, warum es ein urmenschliches Bedürfnis ist, Geschichten zu erzählen.

Das Raffinierte an wirklich guten Büchern ist die Art der Übermittlung der Botschaften.
„Der Distelfink“ ist eines dieser wunderbaren Bücher.

Die Folie - New York. Ein Junge geht mit seiner Mutter ins Metropolitan Museum, um just jenes aus den Niederlanden ausgeliehene Bild zu sehen. Der Junge sieht nicht das Bild, sondern ein Mädchen seines Alters, das mit ihrem Großvater die Galerie besucht - Pippa. Da erschüttert eine Explosion das Museum. Theodore, so heißt unser Held, erwacht in den Trümmern, neben sich den sterbenden Großvater des Mädchens, der ihm das kleine Bild des Distelfinken in die Hand drückt. So wird er der unrechtmäßige Besitzer dieses Bildes.

Das weitere Geschehen wird immer wieder von dem Gemälde, das von den verschiedensten Seiten begehrt wird, vorangetrieben. Der Distelfink bewährt sich dabei als das, wofür er in der Kunstgeschichte immer stand - als Symbol für die geretteten Seelen, aber auch für Ausdauer und Beharrlichkeit.

Die braucht Theodor, um mit seinem Leben zurecht zu kommen. Wir folgen ihm über mehr als ein Dutzend Jahre. Gerettet wird er immer wieder von seinen Freunden. Die zwei, denen er alles verdankt, sind zum Einen der alte Kunstrestaurator Hobie, der Geschäftspartner des Mannes, von dem er das Bild hat. Er nimmt den verlassenen Jungen auf und bietet ihm ein Zuhause, als er es braucht, auch um zu lernen, wie man mit Trauer lebt. Selbst als Theodore längst erwachsen ist, hat er seinen Platz bei Hobie, der seine Familie geworden ist. Bei allen Verirrungen, von denen es nicht wenige gibt, ist Hobie, seine Liebe, seine Redlichkeit und die Wohnung der Ort, der vor der Welt schützt.

Und dann ist da Boris, das verwahrloste Kind eines brutalen Ukrainers, eine der verwegensten Figuren, die mir in letzter Zeit in der Literatur untergekommen sind. Was wäre aus den unvollkommenen Helden Theodore und Boris geworden, wenn die beiden Halbwaisen sich nicht begegnet wären? Sie wären verloren gewesen, soviel steht fest. Jeder auf seine Weise. Auch in dieser Freundschaft spielt das Gemälde eine wichtige Rolle. Es trägt dazu bei, dass sie Augen und Herz offen halten und nicht verloren gehen in den Turbulenzen des Schicksals.
Ja und schließlich Pippa, jenes am Anfang kleine Mädchen, dem wir ursprünglich in der Galerie begegnet sind. Sie bleibt das Symbol einer Sehnsucht, die nach Erfüllung strebt, auch wenn unklar ist, ob es diese Erfüllung geben kann, solange wir eingesperrt sind im Herzen des Lichts wie der Distelfink.

Wir haben es mit einem Buch zu tun, das vieldeutige Antworten auf die Geheimnisse des Lebens gibt und mich sicher noch lange begleitet.
Einen so dicken Roman adäquat vorgelesen zu bekommen, ist natürlich der pure Luxus. Dafür danke ich Matthias Koeberlin - gut gemacht!


© Bild: Random House